TWISTED SISTER: Interview mit Dee Snider (2006)

Nachdem TWISTED SISTER sich nach langer Auszeit 2002 erstmals wieder für eine Liveshow zusammengetan hatten, begann der zweite große Karriereabschnitt der New Yorker. Headliner-Shows rund um die Welt (darunter die umjubelten BANG YOUR HEAD!!!-Shows 2003 und 2005 etablierte die Band in der Szene wieder als absoluten Top-Act. Und doch kündigten die Musiker an, dass ausgerechnet das Weihnachts-Cover-Album 'A Twisted Christmas' ihren erneuten Abschied von den Bühnen der Welt markieren sollte. Wie wir wissen, kam es anders - und schon im HEAVY-Interview mit Alexander Kolbe ließ Ausnahmeentertainer Dee Snider in der Magazin-Ausgabe Nr. 97 durchblicken, dass der angekündigte Exitus noch nicht wirklich in Stein gemeißelt war. Aber lest selbst!

Eine schöne Bescherung

Nicht wenige Fans von TWISTED SISTER dürften kräftig geschluckt haben, als bekannt wurde, dass die letzte Scheibe der Band ein Weihnachtsalbum werden würde. Und in der Tat ist das Ergebnis am ehesten mit dem Prädikat „grenzwertig“ zu versehen.

Front-Schwester Dee Snider weist im Interview jedoch nicht nur eine musikalische Verbindung zwischen dem größten Hit seiner Band und einem alten Weihnachtsschinken nach, sondern berichtet darüber hinaus euphorisch von einem Rieseninteresse an ’A Twisted Christmas’ - mit vielleicht überraschenden Folgen.

Bis vor ein oder zwei Wochen (das Interview wurde Mitte Oktober geführt - der Verf.) habe ich den Leuten erzählt, dass dies für mich das letzte Jahr mit TWISTED SISTER sein würde. Aber aufgrund der unglaublich guten Reaktionen auf das Album habe ich meinen Standpunkt geändert. Es sieht sogar so aus, als ob das Album ein Hit werden könnte. Wir haben bereits vor der Veröffentlichung mehr Alben davon abgesetzt als von allem, was wir seit den Achtzigern gemacht haben. Die Vorabbestellungen sind enorm. Es gibt ja im Internet jetzt dieses MySpace-Portal: Dort gab es Zehntausende Klicks auf unsere Weihnachtssongs, die wir auf die Webseite gestellt hatten, mehr als bei unseren Originalsongs. Es ist verrückt! ’We’re Not Gonna Take It’ stand dort für sechs Monate, und ’I Saw Mommy Kissing Santa Clause’ und ’White Christmas’ haben in drei Wochen mehr Leute angehört. Das Album ist noch nicht draußen, es ist noch nicht Weihnachten, und ich weiß nicht, wie die Leute von dem verdammten Zeug wissen. Ich wollte eigentlich aus persönlichen Gründen aufhören. Ich mache so viele verschiedene Sachen. Ihr wisst in Europa vielleicht nichts von meinen Radio- und Filmaktivitäten. Und dann gibt es noch TWISTED SISTER. Das laugt mich aus. Ich liebe es, aber meine Familie liebe ich mehr. In den letzten vier Jahren war es sehr schwierig, freie Wochenenden oder Urlaub zu haben, den ich mit ihr verbringen kann. Wenn die Scheibe jedoch gut läuft, dann werden wir weitermachen, weil es sehr schwer ist, vor einem erfolgreichen Album davonzulaufen.

Eure Anhänger werden sich freuen, das zu hören. Warum habt Ihr Euch aber dafür entschieden, ausgerechnet ein Weihnachtsalbum als nun möglicherweise doch nicht letztes Lebenszeichen zu veröffentlichen? Viele Fans hätten sicher lieber ein reguläres TWISTED SISTER-Album gehört.

Ja, es gibt Fans, die gern neue Songs hören würden, aber die Realität der Musikindustrie ist: Die meisten Leute, die zu den Konzerten kommen, um TWISTED SISTER live zu sehen, sind an aktueller Musik einer Achtziger-Band nicht interessiert. Schaut man sich die Verkäufe neuer Platten von Acts wie KISS oder MÖTLEY CRÜE an, dann merkt man, dass sie nicht gut sind. Wenn eine Band wie TWISTED SISTER ein Weihnachtsalbum veröffentlicht, dann denken die Leute aber: „Wie bitte?“ Es weckt Interesse. Und darum geht es bei TWISTED SISTER, wir wollen die Aufmerksamkeit der Leute erregen, Mann, haha! Und wer weiß, wenn uns dies mit einem verdammten Weihnachtsalbum gelingt, dann erscheint möglicherweise auch ein weiteres TWISTED SISTER-Album mit Originalsongs. Es gibt eine Sache, die ich nicht ertragen kann: wenn mich Leute ignorieren. Und es ist nun mal so, dass neue Musik alter Künstler von den Massen meist nicht beachtet wird. Das ist enttäuschend, und ich sage dir noch was: Es schmerzt. Ich habe aufgehört, Songs zu schreiben, weil ich diese Schmerzen leid bin. Und es geht da nicht nur um die Fans. Die Industrie erlaubt es einfach nicht, dass neue Musik die Leute erreicht. Ich weiß nicht, wie es in Europa ist, aber in Amerika haben aktuelle Songs einer alten Band keine Chance, im Radio gespielt zu werden. Du drehst ein Video, und die Musiksender schauen es sich nicht einmal an. Daher haben die Fans keinen Zugang. Wenn du dann auf die Bühne gehst und neue Sachen spielst, haben die Fans das Lied nie zuvor gehört. Es gibt natürlich einschlägige Radiosender und Magazine, aber in den Mainstream-Medien, die die meisten Menschen erreichen, kommt man nicht vor. Es tut einem als Künstler weh, wenn man neue Musik spielt und das Publikum das Interesse verliert und du vielleicht sogar siehst, wie die Leute auf die Toilette oder zum Bierstand gehen. Warum schreibst man dann neue Songs? Da fehlt mir schlicht und ergreifend die Motivation.

Als Jay Jay mit der Idee des Weihnachtsalbums ankam, war das ein Einfall, über den ich schon vor langer Zeit nachgedacht hatte, damals in den Achtzigern, als ich noch ein zorniger junger Headbanger war. Ich hörte mir zu Weihnachten ein entsprechendes Album an und dachte mir: „Warum zum Teufel gibt es keine Heavy Metal-Weihnachtsmusik? Warum muss ich mir Disco-, Klassik-, Jazz-, Folk- oder Popversionen von Weihnachtsliedern anhören?“ Also überlegte ich mir, es muss so 1985 gewesen sein, ich rufe Lemmy, MAIDEN, PRIEST, AC/DC, all die großen Metal-Bands an und schlage ihnen vor, ein Heavy Metal-Weihnachtsalbum zusammenzustellen, für das jede Band ein Weihnachtslied im Metal-Stil aufnimmt. Aus irgendeinem Grund verfolgte ich die Idee aber nicht weiter und vergaß sie schließlich. Als Jay Jay dann im letzten Jahr fragte, was wir von einem Weihnachtsalbum halten würden, weil wir gerade eine Show in der Weihnachtszeit spielten, erinnerte ich mich an meine Gedanken von vor 20 Jahren und sagte: „Ja!“ Und er sagte: „Ja??“ und war richtig schockiert und überrascht über meine Zustimmung.

Es war zu lesen, dass Ihr manche der Songs im Geiste bestimmter Heavy-Acts, die Du erwähnt hast, interpretiert habt. Erzähl doch mal ein wenig von diesem Ansatz.

Nun, ich habe nie eine der Bands, von denen ich dachte, dass sie gut dafür geeignet seien, angerufen, aber ich überlegte mir Songs, die zu ihnen passen würden, wie zum Beispiel ’White Christmas’ zu IRON MAIDEN oder ’Silver Bells’ zu AC/DC. Als es dann daran ging, das Album aufzunehmen, dachte ich, dass es cool wäre, Songs im Stil bestimmter Acts einzuspielen, von denen wir Fans oder mit denen wir befreundet sind, quasi als Hommage. Also spielten wir die Tracks so ein, wie es Bands wie MAIDEN, PRIEST, AC/DC oder auch THIN LIZZY möglicherweise getan hätten.

Dass das Album Eure Fans trotzdem stark polarisieren wird, ist Dir aber schon klar, oder?

Zunächst einmal macht man Musik für sich selbst und nicht für die Fans. Es gab in der Vergangenheit Momente, wo ich zuviel über bestimmte Aspekte nachgedacht habe, ob es die Fans mögen werden, ob die Songs Erfolg haben werden, und ab da gingen die Dinge schief. Das Lustige ist, dass die Leute, wenn wir ihnen erzählen, dass wir ein Weihnachtsalbum aufnehmen, zunächst lachen. Wenn sie jedoch ein paar Sekunden darüber nachgedacht haben, finden sie plötzlich, dass es keine schlechte Idee ist. Und wenn sie das Ergebnis dann hören, sagen sie: „Heilige Scheiße, das könnte funktionieren!“.

Einer der Songs, ’Oh Come All Ye Faithful’, erinnert stark an den Refrain von ‘We’re Not Gonna Take It’. Ihr habt sogar ein Solo Eures Megahits in das Stück eingebaut. Hast Du damals, als Du ’We’re Not Gonna Take It’ geschrieben hast, unbewusst oder bewusst bei diesem Weihnachtssong abgekupfert?

Absolut! Ich sang im Schulchor, bis ich achtzehn war. Ich bin ein klassisch ausgebildeter Counter-Tenor. Jeden Sonntag sang ich in der Kirche. Einer meiner Lieblingssongs war ’Oh Come All Ye Faithful’. Jahre später fiel mir dieser tolle Song ’We’re Not Gonna Take It’ ein. Wiederum Jahre später sagte Al Pitrelli, der mit mir bei WIDOWMAKER spielte: „Hey, du hast doch Teile von ’We’re Not Gonna Take It’ von ’Oh Come All Ye Faithful’ geklaut!“ Und ich meinte: „Was?“ Also sang er mir die Gemeinsamkeiten vor, und ich dachte: „Heilige Scheiße, all die Jahre in der Kirche haben sich letzten Endes ausgezahlt!“.

Autor: 

Alexander Kolbe

Aus Heavy-Ausgabe: 

97

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